Neues jüdisches Leben in Deutschland (2008)

Kurzbeschreibung

In diesem Gespräch vergleichen Susan Sideropoulos, ihr Ehemann Jakob Shtizweg sowie dessen Schwester Ina ihre Erfahrungen des Aufwachsens als jüdische Kinder und Jugendliche in (West-)Deutschland von den späten 1980er Jahren bis 2008. Alle drei leben in Berlin, das spätestens seit dem 19. Jahrhundert eines der Zentren jüdischen Lebens in Deutschland war. Nach der Wiedervereinigung 1990 erfuhr die jüdische Gemeinde in Berlin wie in einigen anderen städtischen Ballungszentren besonders infolge der Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion ein erneutes Aufleben. Nach Angaben des Zentralrats der Juden in Deutschland gibt es heute 105 jüdische Gemeinden mit insgesamt ca. 100.000 Mitgliedern in Deutschland.

Quelle

„Manche gucken mich an, als sei ich ein Außerirdischer.“
Susan Sideropoulos, Schauspielerin, Serien-Star in „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ (RTL), 26 Jahre, Berlin
Jakob Shtizweg, Event-Manager, 27 Jahre, Berlin
Ina Shtizweg, Reisekauffrau, 28 Jahre, Berlin

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Susan: [] Meine Großeltern sind 1938 vor den Nazis nach Palästina geflüchtet, aber sie sind 1952 zurückgekehrt. Sie haben sich immer als Deutsche gefühlt. Meine Mutter war acht, als die Familie wieder nach Hamburg kam. Hier hat sie dann später auch meinen Vater kennen gelernt, er ist Grieche.

Jakob: Meine Eltern sind 1979 aus Kishinew nach Israel eingewandert. Meine Mutter war damals schwanger mit mir, außerdem hatte sie noch zwei Babys. Mein Bruder ist zwei Jahre, meine Schwester nur elf Monate älter als ich. Der Start war schwierig für die Familie. Mein Vater wurde gleich zur Armee eingezogen, und Arbeit gab es für ihn, weil er die Sprache nicht konnte, später nur in der Fabrik. Aber mein Vater hatte eine Idee. Er war Fleischermeister von Beruf, und er hat im Norden, in Akko, einen Laden mit unkoscheren Produkten aufgemacht. Das war zwar ein Skandal, die Zei­tungen haben darüber berichtet, aber es war auch ein Rie­senerfolg.

Er hat schon bald einen zweiten Laden eröffnen können und wollte sich eigentlich mit einer Kette über ganz Israel ausbreiten. Aber dann hat er einen Schwur eingelöst, den er nach dem Krieg von 1982, für den er auch wieder rekrutiert worden war, geleistet hatte: Wenn ich genug Geld zusammen habe, dann verlasse ich dieses Land. Er hatte drei Kinder und wusste, alle müssen irgendwann zum Militär. Als 1987 der Zeitpunkt günstig war, hat er alles verkauft und ist mit uns nach Westberlin gegangen. Er hat sich diesen Schritt nicht leicht gemacht, es ging uns ja gut, aber er hat es für uns Kinder getan.

Ina: In Berlin hatte er geschäftlich nicht so viel Glück. Mit einem Imbiss ist er auf die Nase gefallen. Ich denke, die Zeit war noch nicht reif dafür. Er hat eine Art Döner aus Hammelfleisch angeboten, die Idee hatte er aus Israel mitge­bracht. Heute sieht man solche Läden an jeder Straßenecke. Aber damals haben die Leute das nicht verstanden.

Jakob: Mein Vater hat dann in der Spielhallenbranche Fuß gefasst. Er hat als Kassierer und Wechsler gearbeitet, meine Mutter auch, und dann hat er sich selbständig gemacht. Heu­te besitzt er selber einige Läden.

Ina: Wir waren noch Kinder, als wir nach Berlin kamen. Ich war neun, Jakob siebeneinhalb. Die Sprache haben wir schnell gelernt, schon nach einem Jahr konnten wir perfekt Deutsch. Das lag aber auch daran, dass unsere Eltern uns immer eingetrichtert haben, auf der Straße nicht hebräisch zu sprechen. Wir wohnten in Moabit, wo auch viele Türken und Araber lebten, und ich denke, sie hatten einfach Angst um uns.

Jakob: Mein Freundeskreis bestand damals hauptsächlich aus Türken und Arabern, ich habe ständig mit denen auf der Straße rumgehangen. Als ich zehn war, habe ich mal einem türkischen Freund erzählt, dass ich jüdisch bin, und ich weiß noch, wie der reagiert hat. Er schaute mich an, völlig ge­schockt, und meinte: „Meine Eltern sagen, Juden sind ganz schlimme Menschen.“ Von da an habe ich nie mehr über meine Jüdischkeit gesprochen. Ich habe es nicht mehr er­wähnt, bis ich soweit war, mich auf meine Bar Mizwa vor­zubereiten.

Ich kann heute sagen, dass für mich das Judentum mehr eine Erziehung als eine Religion ist. Bei mir hatten die sechs Monate, in denen ich für die Bar Mizwa gearbeitet habe, jedenfalls einen ungeheuren Effekt. Was natürlich auch daran lag, dass wir einen tollen Lehrer hatten. Vorher war ich ein Riesenchaot gewesen, ich wollte nie lernen, war in so ’ner Gang, ich hab so eine kleine kriminelle Karriere angestrebt. Durch die Bar Mizwa bin ich in einen ganz anderen Kreis geraten, und die Freunde, die ich da gefunden habe, die ha­ben mir praktisch wieder die Tür zum Judentum geöffnet. Man ist auch wieder in die Synagoge gegangen, hat da noch mehr Leute kennen gelernt, und mit der Zeit hat sich so eine Clique gebildet, die heute noch zusammenhält.

Ina: Ich habe meine Jüdischkeit auch wieder gefunden, als Jakob seine Bar Mizwa machte. Er hat die Religion praktisch wieder nach Hause gebracht. Meine Eltern haben uns zwar mal in eine jüdische Tanzgruppe gesteckt, als wir klein wa­ren, aber die haben uns nicht akzeptiert. Wir sind dann im­mer weinend nach Haus gekommen, und schließlich haben die Eltern uns wieder abgemeldet. Nach diesem negativen Erlebnis habe ich meine ganze jüdische oder israelische Men­talität erst mal vergessen, und meine Eltern haben uns nie zu etwas gedrängt. Sie haben uns von Geburt an vermittelt, dass wir jüdisch sind, das ja. Sie haben gesagt: „Das ist unsere Tradition. Wir sind nicht religiös, aber Gott ist in unserem Herzen. Was ihr später damit anfangen wollt, ist eure Sa­che.“ Und natürlich haben sie sich gefreut, als Jakob dann auch intensiv in die Gemeindearbeit eingestiegen ist.

Jakob: Ja, das war der nächste Schritt in meiner Entwick­lung. Ich habe angefangen, mit Kindern und später auch mit Jugendlichen zu arbeiten. Ich war Erzieher, hatte meine ei­gene Gruppe und bin dann auch regelmäßig zu den Machanot gefahren, das sind Feriencamps für junge Juden.

Susan: Auf einem dieser Camps haben wir uns kennen gelernt, in Südtirol. Ich war 15, er 16. Die Idee der Machanot ist sehr alt, der Ursprung liegt in der Kibbuz-Bewegung. Mei­ne Mutter hat schon daran teilgenommen, und mich hat sie zum ersten Mal hingeschickt, als ich acht war. Als Kind war ich bestimmt an die 20 Mal in so einem Camp, später habe ich dann selber als jugendliche Betreuerin gearbeitet. Das Schöne an dieser Idee ist, dass den Kindern spielerisch Jü­dischkeit beigebracht wird, vollkommen ohne Zwang, mit unheimlich viel Spaß. Je älter man wird, desto interessanter werden natürlich auch die Themen und Projekte. Aber was noch viel mehr im Vordergrund steht, sind das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Wertevermittlung. Man lernt Hilfsbereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, füreinan­der da zu sein. Und man lernt natürlich unheimlich viele Leu­te kennen. Es entwickeln sich Freundschaften, auf die man später im Leben jederzeit zurückgreifen kann. Das ist wie ein Netzwerk.

Jakob: Bei der Jugendarbeit geht es natürlich auch um historische Themen. Vor Gedenktagen haben wir zum Bei­spiel Programme entwickelt, um die Kinder vorzubereiten. Ich denke, jüdische Kinder haben eine besondere Verantwor­tung ihrer Geschichte gegenüber. Wenn im Unterricht der Zweite Weltkrieg oder der Holocaust behandelt werden, dann dreht sich immer die ganze Klasse nach dem jüdischen Mädchen oder Jungen um, das kennen wir doch alle, das habe ich auch erlebt. Und wir wissen doch auch, dass irgend­wann jeder jüdische Jugendliche Probleme mit seiner Identi­tät hat.

Susan: Nein.

Jakob: Wie kannst du so was sagen ...

Susan: Ich hatte sie nicht.

Jakob: Aber denk an die Kinder in den Camps, jedes zwei­te konnte doch eine Geschichte aus seinem Schulalltag erzäh­len.

Ina: Man musste sich immer irgendwie verteidigen, da hat Jakob schon recht. Ich habe das sehr zu spüren bekommen. Als ich in der achten Klasse auf eine andere Schule wechselte, war das am Anfang ganz toll. Jeder interessierte sich, fragte, wer ist denn dieses neue Mädel. Ich habe dann irgendwann erzählt, dass ich aus Israel komme, und das war wie so ein Knopfdruck für alle Jungs in der Klasse, mich fortan als Op­fer zu sehen und zu terrorisieren. Ich war 14, und diese Zeit hat mich für mein Leben geprägt, das war wirklich Terror. Scheiß Jüdin, ihr seid alle Schweine, euch müsste man alle vergast haben, schade, dass Hitler das nicht geschafft hat – so ging das pausenlos. Und die Sprüche kamen nicht nur von arabischen Jugendlichen. Es waren auch Deutsche dabei, und ein Engländer, der hatte faschistische Eltern.

Ich hab viel geweint damals, und irgendwann bin ich dann zur Direktorin und hab mich beschwert. Diese Frau hat nur gesagt: Du bist selber schuld. Du explodierst zu schnell, du musst ganz ruhig bleiben, denen überhaupt keine Beachtung schenken.

Susan: Ich bin echt schockiert.

Jakob: Du bist in einem ganz anderen Milieu aufgewach­sen. Wir waren auf der Hauptschule, du auf einer Gesamt­schule. Und du hast deinen griechischen Nachnamen. Man kommt doch nicht auf Anhieb darauf, dass du jüdisch bist.

Susan: Sicher, wenn man mich gefragt hat, hab ich erst mal gesagt: „Ich bin Deutsche.“ Aber mir war von Anfang an bewusst, seitdem ich klar denken kann, dass ich auch jüdisch bin. Dafür hat meine Mama gesorgt. Sie hat mir grundlegen­de Sachen beigebracht, mich zum jüdischen Religionsunter­richt geschickt, und sie hat alle Feste mit uns gefeiert. Die Feiertage, das war das Wichtigste für meine Mama, das war der Zusammenhalt der Familie. Wir sind in die Synagoge gegangen, und am Schabbat saßen wir alle um einen großen Tisch.

Aber dann starben erst meine Großeltern, und als ich 16 war, starb auch meine Mutter. Mir ist es nicht gelungen, dieses Schabbat-Beisammensein aufrechtzuhalten. Ich war zu jung.

Jakob: Das Judentum ist eine extrem positive Religion. Sie bringt dir bei, dass du im Leben alles bewegen kannst, was du willst. Es liegt alles in dir, du hast die Kraft, die gesamte Welt zu verändern. Als Erzieher habe ich das meinen Kids beigebracht, und irgendwann habe ich begriffen, dass ich das erst mal selbst ausleben muss, ehe ich vor anderen darüber predige. Nach meiner Ausbildung zum Hotel- und Gastro­nomiefachmann habe ich deshalb das Abitur nachgemacht, es war die Hölle. Für jemanden wie mich, der durch die Schule immer nur so durchgerutscht ist, war es eine Qual. Aber ich hab’s geschafft, auch mit Hilfe meines türkischen Freundes, der mich immer wieder geschubst hat. Danach habe ich Marketing und Kommunikation studiert und lange nachgedacht, was ich mit meinem Leben machen soll.

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Ina: Ich war 14, als ich durch Jakob den Weg zurück ins jüdische Leben fand. Auf einmal war da wieder eine Welt, die mir gefehlt hatte, ein Stück Heimat, und dadurch habe ich auch Israel wieder entdeckt. Mit 15 habe ich angefangen, meine Eltern zu nerven: „Ich will zurück nach Israel.“ Meine Eltern bestanden darauf, dass ich zuerst eine Ausbildung be­ende, aber nachdem ich in den Ferien durch Israel getourt war, gab es für mich kein Halten mehr. Ich hab zwar noch eine Lehre als Friseurin angefangen in Berlin, aber mein Kopf war in Israel, und nach einem halben Jahr bin ich ausgewan­dert. In Eilat bin ich in die Tourismusbranche eingestiegen und habe herausgefunden: Das ist mein Leben, das will ich machen. Aber dann kamen die Anschläge, die Touristen blie­ben aus, ich wurde entlassen. Nach vier Jahren Israel bin ich nach Deutschland zurückgekehrt. Mein Herz ist noch dort, ich bin dort zu Hause, ich liebe Israel. Es ist ein wundervolles Land, die Leute sind wundervoll, aber das Leben ist schwerer als hier. Es gibt überall Wachen, man wird kontrolliert, vieles ist mühsam. Was mir aber positiv aufgefallen ist: Viele junge Israelis interessieren sich inzwischen dafür, sich nach der Ar­mee mal Deutschland anzuschauen. Das war früher anders. Da waren große Vorurteile und auch immer noch die Angst vor den Nazis.

Jakob: Ich muss ganz ehrlich sagen, bis heute denke ich gut nach, wenn mich jemand fragt, woher ich komme. Ich würde nie sofort sagen: „Aus Israel“. Da ist halt so eine un­bewusste Angst, die ich von meinem Vater mitbekommen habe. Er hat immer gesagt: „Es gibt viele Feinde, mal lang­sam mit der Identität.“ Wir wohnten im Erdgeschoss, und wir haben uns nie getraut, eine Mesusa an die Tür zu ma­chen. Wenn ich meinen Vater gefragt habe, warum geht das nicht, dann meinte er: „Warum sollen wir jemanden provo­zieren. Lassen wir das lieber, es geht uns gut so, wie wir leben, und wir werden uns ärgern, wenn etwas passiert. Wenn uns jemand die Scheibe einschlägt, werden wir anfan­gen, mit der Angst zu leben. Wir wissen, wer wir sind, wir tragen es im Herzen, wir müssen es nicht nach außen tra­gen.“

Ina: Wir haben keine Angst, mit dem Davidstern über den Kudamm zu laufen. Das ist natürlich schon ganz anders in Neukölln oder Kreuzberg, wo es ja schon schlimme Über­griffe gegeben hat.

Susan: Ich habe noch nie ein Problem mit meiner Identität gehabt, und ich will auch einfach kein Problem damit haben. Ich sträube mich, ein Geheimnis daraus zu machen. Klar, mein Papa hat manchmal Angst, seitdem ich im öffentlichen Leben stehe. Für ihn war das ein Problem, dass ich immer offen damit umgegangen bin. Er hat gesagt: „Nee, also muss das jetzt sein im Interview?“ Aber wenn ich gefragt werde, will ich meine Jüdischkeit nicht leugnen. Man will ja auch die Leute aufklären, nur dann geht’s irgendwie weiter. Ich bin eine deutsche Jüdin, und ich möchte gern klar machen, dass das funktioniert. Dass es kein Widerspruch ist, sich als Deutsche und als Jüdin zu begreifen. Ich habe auch einen Nationalstolz, was Deutschland angeht. Ich finde, das Land hat wirklich viel geleistet und viel zu bieten. Natürlich darf man nicht vergessen, was passiert ist. Aber Aufklärung bedeutet ja nicht, dass man die heutige Generation verurteilt. Man darf keine Anti-Haltung einnehmen, man muss eine Verbindung schaffen zwischen Deutschen und Juden, und das versuche ich.

Jakob: Ich bin immer noch geschockt, wenn ich Menschen treffe, die mir sagen: „Ich habe noch nie einen Juden gese­hen.“ Bei meiner Arbeit passiert das manchmal, die gucken mich an, als sei ich ein Außerirdischer. Aber vieles sehe ich sehr positiv. Susans Bruder zum Beispiel ist mit einer Türkin verheiratet, und zu meinen besten Freunden gehören ein Kur­de und zwei Palästinenser, die auch auf unserer Hochzeit waren. Ich denke, das ist die Zukunft. So soll es sein.

Quelle: Jürgen Bertram, Wer baut, der bleibt. Neues jüdisches Leben in Deutschland. Frankfurt a. M.: Fischer, 2008, S. 103-112.

Neues jüdisches Leben in Deutschland (2008), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-100> [03.12.2023].